Die Ukrainekrise im größeren Blickfeld betrachtet
In China gibt es das Stragem Nr. 6:
声东击西 (sheng dong ji xi)
Die Kurzformel geht zurück auf den Beamten und Historiker Du You (735-812):
„Man kündigt einen Angriff im Osten an, um in Wirklichkeit im Westen anzugreifen.“
Ein modernes Strategembuch von 1991 aus Peking erläutert diese List übersetzt ungefähr wie folgt:
„Das Ziel ist die Verschleierung der Stoßrichtung eines Angriffs. Mittels agiler Operationen taucht man bald im Westen, bald im Osten auf; schlägt plötzlich zu, um sich genauso plötzlich wieder zurückzuziehen; täuscht einen bevorstehenden Angriff vor, den man dann gar nicht ausführt; spiegelt friedliche Absichten vor, obwohl man in Wirklichkeit angreifen will; setzt eine bestimmte Aktionskette mit als zwingend erscheinendem Handlungsablauf in Gang, um das Ganze dann plötzlich abzublasen; lässt irgend etwas scheinbar zufällig geschehen, das gar kein Zufall ist; stellt sich als handlungsbereit hin, obwohl man handlungsunfähig ist und umgekehrt. Der Gegner zieht aufgrund der seiner Wahrnehmung zugänglichen Phänomene voreilige Schlüsse und trifft falsche Vorkehrungen, um dann an einer Stelle angegriffen und besiegt zu werden, an die er gar nicht gedacht hat.“
Mich beschleicht momentan ein Gefühl, dass sich dieses Strategem gerade in der nicht in Europa bisher medial groß wahrgenommenen umgekehrten Variante in Russland vollzieht:
声西击东 (sheng xi ji dong)
Dank der aktuellen geopolitischen Auseinandersetzung um die Krim und die Probleme in der Ukraine, ist der Blick der europäischen Medien und dadurch ihrer Bürger auf diese verhältnismäßig kleine Halbinsel gerichtet, die als Grenzkonflikt zur EU/NATO begriffen werden kann und wird. Natürlich ist diese nicht klein, ist sie doch mit 26.844 km² größer als das Bundesland Hessen.
Nur ist es mir unverständlich, wie die aktuelle Eskalation auf beiden Seiten vollzogen wird und wie ungeschickt sich beide Seiten für ihre Darstellung der Realität einsetzen und warum es nicht in einen größeren geo-politischen Kontext gesetzt wird.
Stattdessen erfahren wir von einem Telefonat von Barroso und Putin? Außer Frage kann Russland die Ukraine in zwei Wochen vereinnahmen, aber was hätte er davon? Zufällig überqueren russische Soldaten die Grenze? Ich verliere bei diesem Schachspiel in der europäischen Berichterstattung schlicht den Überblick und kann so die verschiedenen Züge nicht für mich erschließen.
Da ich nicht zu Verschwörungstheorien neige und auch weder eine pro-russische noch pro-europäische Meinung habe, sondern schlicht das Ziel der Intervention begreifen mag, schaue ich gerne über den medialen Tellerrand.
Was ich für mich mit dem Blick auf internationale Medien und Berichterstattungen bemerke, ist ein Anstieg von Mitteilungen über Kasachstan und die Mongolei und die dortigen Interessen Russlands und China.
Beispiele die sich so auch in russischsprachigen oder chinesischen Artikeln wiederfinden:
- Kazakhs Worried After Putin Questions History of Country’s Independence
- Vizepremier Wang trifft Regierungschefs aus Kasachstan, Kirgisien und Georgien
- Der dritte Nachbar ist fern..
- Putin besucht am 3. September die Mongolei
- China und Mongolei bauen Beziehungen aus
Gerade chinesisch-sprachige Medien befassen sich zunehmend mit beiden Ländern und aktuellen russischen Interesse an ihnen.
Zwei Artikel (einer von der Deutschen Welle) die sich sicherlich halbwegs mit einem Übersetzer gut übersetzen lassen wären:
Auch eine Form des digitalen Geschichtsunterrichtes ist bemerkbar:
Aus Computerspielen Lernsoftware basteln
Leider war mein Geschichtsunterricht nie sehr zufriedenstellend und konzentrierte sich auf die europäische Geschichte. Dies ließ sich jedoch sehr gut und vergleichbar schnell durch die Clausewitz-Engine, ein eigentlich für Computerspiele der Firma Paradox Interactive programmierte Software, und die Wikipedia beheben. Die Software gibt einen guten globalen Überblick über die Entwicklung von Kulturgruppen, Religionen und politischen Staatsgebieten, also auch der Länder oder Bevölkerungsgruppen, speziell eher Hauptkhanate Kasachstan und der Mongolei.
Wenn Vladimir Putin davon spricht, dass Kazachstan nie ein unabhängiges Land gewesen ist und er einen „Wunsch der dortigen russischen Bevölkerung verspürt“ sich wieder mehr an Russland orientieren zu wollen, mag ich mit einer kleinen Zusammenfassung – gestaltet aus der Engine – mal die Jahre 1444 bis 1821 zusammenfassen.
Die einzelnen Horden sind hier für die Übersicht in ihre Hauptkhanate Nogai, Kazachen, Oirat, Chagai, Mongolei und Mandschu zusammengefasst:
Der Zeitraum 1821-1917 sprengt leider meine zur Verfügung stehenden Ressourcen am PC.
Danach erfolgte um das Einverleiben durch die Qing (bis 1912, danach China) zu vermeiden, eine erst freiwillige Annäherung der Kasachen ab zirka 1850 an das russische Zarenreich und wurde daraus folgend 1917 offiziell in die Sowjetische Herrschaft eingegliedert. Bereits 1990 erklärte Kasachstan wieder seine Souveränität. Wir reden also von lediglich 73 Jahren Fremdherrschaft.
Wenn nun also in China auf dem Portal sina.com, eines der größten chinesisch-sprachigen Infotainment-Portalen mit zirka 100 Millionen Usern, die Geschichte der Mongolei so zusammengefasst wird, dass:
(…) Stalin gesagt hätte, niemand solle die Mongolei einverleiben und die Nachkommen der Horden Dschingis Khans hätten sich mit dem Zarenreich verbündet um die Äußere Mongolei (heutige Mongolei) 1911 unabhängig zu erklären. [mein Mandarin ist sehr mangelhaft.]
frage ich mich, warum solche Untertöne mitschwingen. Ein Ausflug in die geographischen Gold-Abbaugebiete des Ongi-Flusses und die territoriale Integrität kommen im Artikel ebenfalls nicht zu kurz. Eine Herleitung über die noch immer vorhandenen Ressentiments über den „Mongolen-Fürst“ Dschingis Khans verstehe ich immer als negative Prägung.
Letztlich bin ich mir absolut nicht sicher, was mich überhaupt gerade irritiert, doch die Unabhängigkeitstage und andere Feiertage der Mongolei und Kasachstan waren bereits oder sind noch weit entfernt. Die aktuelle Bereisung der Gebiete der ehemaligen Khanate und heutigen unabhängigen Staaten von chinesischen und russischen Vertretern wirken aktuell gehäuft und die Töne die ich aus den mir zur Verfügung stehenden Quellen vernehme, lassen mich aufhorchen.
Es erinnert alles an Qiao Guanhuas UNO-Rede am 26.09.1975.
Bei den damaligen Grenzspannungen zwischen der Sowjetunion und China äußerte er zur 30. Tagung der UNO-Vollversammlung:
„Die beiden Supermächte, die USA und die Sowjetunion, ringen auf dem ganzen Erdball miteinander. Sie verstärken ihre Rivalität in Europa, im Mittelmeer, im Mittleren Osten, im Persischen Golf, im Indischen Ozean, im Pazifischen Ozean, im Atlantik, in Asien, Afrika und Lateinamerika. Der strategische Schwerpunkt ihrer Rivalität liegt in Europa. Der Sozialimperialismus (also die UdSSR) täuscht einen Angriff auf den Osten vor, in Wirklichkeit ist dieser jedoch gegen den Westen gerichtet.“
Mich beschleicht schlicht das Gefühl, dass die rhetorische List momentan wieder ist, dass man die Aufmerksamkeit vom eigentlich drängenden Hauptproblem ablenkt, indem man ein angeblich viel wichtigeres, in Wirklichkeit aber irreales anderes Problem aufbauscht.
Ich habe nur kein Antwort darauf, welches irreal ist, 西 oder 东.