Stockholmwarnblinklicht-Syndrom

Ich mag Warnblinker.

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Sie sind ein Signal mit so viel Bedeutungskraft. Dieses eigentlich sehr beruhigende, monoton klackernde orangene Licht gibt einem das Gefühl, dass gerade irgendwo irgendwas ganz wichtiges passiert was seinen Einsatz rechtfertigt.

Es lässt sowas mitklingen von: „Du musst aufpassen! Stell deine Bedürfnisse zurück und konzentrier Dich auf mich! Aber achte nicht zu sehr auf mich, sondern auf deine Umgebung. Vielleicht braucht jemand Hilfe.“

Bei sowas bin ich dann auch immer sofort hellwach, egal was ich vorher erlebt habe oder wie müde ich bin und konzentriere mich auf meine Umgebung. Ich helfe ja gern. Ich bin nicht so der vorbeifahrende Typ sondern gebe mir echt Mühe. Ich will ja auch auf Hilfe in solchen Momenten hoffen. Mein Wunsch nach 21 Stunden im Büro nachhause zu fahren und ausparken zu wollen war sofort vergessen. Nur passiert in meiner Umgebung nichts. Also so wirklich gar nichts. Kein Unfall, kein Mensch der beim ausladen Hilfe benötigt und niemand der hinterm Steuer vielleicht einen Herzinfarkt erlitten hat.

Auch keine Passanten sind in der Nähe oder andere Interaktionsmöglichkeiten. Die dichte Besiedlung lässt leider auch keine Rückschlüsse zu, wohin der Fahrer wohl fluchtartig gegangen sein kann. Oder gerannt. Ginge es nach dem Nummernschild des unbeschrifteten LKW müsste die Person auch über 300 Kilometer nachhause laufen. Sagt Google Maps. Es muss ja aber auch was wichtiges sein. Es heisst ja Warnblinker und nicht Achtsamkeitsblinker oder Warteblinker. Oder Parklicht. Lichter in Parkanlagen sind leider viel zu selten in diesem warmen Orange. Oder blinken. Da würde das Blinken auch beunruhigen.

Aber dann wartet man halt trotzdem und parkt halt weiter und die Achtsamkeit lässt nach und man fühlt sich nicht mehr gewarnt. Wenn man ganz allein mit so einem Licht zusammen ist, denkt man wenn man halt sonst gerade nichts zu denken hat und eigentlich auch mit dem denken für heute abschließen wollte irgendwann über das Licht nach:

In den ersten fünf Minuten schaut man sich noch um. Nach zehn Minuten beginnt man das Licht ein bisschen anzufluchen. Aber das bringt nichts, denn es ist stoisch in seiner beruhigenden und trotzdem warnenden Art. Nach 15 Minuten beginnt man sich mit dem Licht anzufreunden. Wie mit Lavalampen oder diesen tollen Plasmakugeln, auf denen man mit den Fingern rumdrücken will.

Nach 20 Minuten beruhigt es. Anfassen wie Plasmalampen will man es zwar auch noch nicht nach 25 Minuten aber da fängt man dann an über das flackernde Licht neu nachzudenken. Man denkt langsam im Takt der Lampe. Wie lange ist wohl die Lebensdauer von so einer ständig an- und ausgehenden Lampe? Und wer hat diesen Takt festgelegt? Wäre mehr Strobolicht nicht sinnvoller? Das ist doch irgendwie zu langsam…

Das. muss. schneller. klackern. Mehr so taktaktaktak und nicht klack-klack-klack.

Und irgendwann nach 30 Minuten kommt dann ein Gefühl der Hilflosigkeit. Man wollte ja helfen aber man kann ja nicht. Wem denn? Dem Licht? Das erfüllt ja nur seine Pflicht. Dem fremden Warnblinkernutzer, der anscheinend irgendwo einen Herzinfarkt erlitten hat? Niemanden der wirklich gerade Hilfe braucht.

Nichtmal sich selbst kann man helfen. Hier kommt man echt nicht raus. Klar ich könnte auf mich und meine missliche Lage hinweisen indem ich auch meinen Warnblinker anmache. Aber vielleicht verbünden sich dann die Lichter gegen einen und irgendwie stell ich es mir schwer vor mich an einen zweiten Takt nach 45 Minuten zu gewöhnen.

Die Polizei nach einer Stunde rufen klingt jetzt auch irgendwie zu spät, ich hab mich ja irgendwie schon an meine Situation gewöhnt. Man könnte von einem Stockholmwarnblinklicht-Syndrom sprechen. Wie eine Motte.

Also schreib ich seit zwanzig Minuten an diesem Text. Ein paar Bekannte hab ich natürlich schon auf meine Situation hingewiesen. Die lachen aber nur. Warnblinklichter werden gar nicht so wirklich ernst genommen.

Lange Texte aber auch nicht. Obwohl beim Schreiben man seinen eigenen Takt wiederfindet. Das lenkt ab. Vom Licht. Von all den Warnungen und Hilferufen die unerhört bleiben. Irgendwann werde ich schon wieder frei sein.

Ich lass jetzt das Auto stehen und gehe zu Fuß.