Achtung: Dieser Artikel ist vom 03.09.2010 und ursprünglich hier erschienen.
Eigentlich wollte ich heute spontan, gemütlich eingepackt in einem ausreichend – meine Freundin nennt es Übergangskleidung –warmen Pullover, mit einem Glas Hefeweizen und einigen verbliebenen Zigaretten im eigenen Garten sitzen, die Abendsonne beim untergehen hinter den Wäldern beobachten und das langsame heller werdende kalte Licht meines neuen Notebooks beobachten, wie er gemeinsam mit meinem überfüllten FeedReader immer leerer wird und letztendlich wie das abendliche, wenn auch blinkende, Rot der Sonne erlischt.
Wie sich solche sonst eher seltenen Momente der Ruhe aber halt ergeben, konnte ich nicht nur die verbliebenen ungelesenen Artikel endlich abarbeiten, sondern mir auch mal ausreichend Zeit zum darüber nachdenken nehmen. Überflog ich durch aktuelle Unkenntnis des Buches und absoluten Desinteresse der medial aufgebauschte Kampagne um und über Thilo Sarrazin, gelangte ich noch auf einige empfohlenen Beiträge über die vorher so hitzig und unglaublich mit Unwissen geführte Google Street View-Debatte und der deutschen Art, mit dieser nicht mehr ganz so neuen Variante eines 360°-Kartendienstes umzugehen.
Bemerkenswert fand ich zum Beispiel die Grundlage des Journalisten Jeff Jarvis, der in seinem Beitrag “The German paradox, continued” sich fragt, was denn überhaupt der Grund ist, warum “wir Deutschen” diesem Dienst so skeptisch und irrational gegenüberstehen. Warum wir nicht unseren Widerstand auf andere, wirklich datenschutzrechtliche Probleme wie den neuen Personalausweis lenken, oder warum nicht auf die parallel geführte Diskussion des “Öffentlichen Raumes” weiter eingegangen wird.
Google StreetView aus der historischen Perspektive
Ich saß wie bereits erwähnt in meinem Garten und konnte über das Deutschsein in seiner digitalen Form und dessen Erbgut nachdenken und mir viel absolut kein verständlicher Grund ein, wieso jemand sich ernsthaft gegen diese Art einer neuen Möglichkeit der kartographischen Information auflehnen könnte.
Die positiven Möglichkeiten und Vergleiche wie “Es hat sich ja auch noch nie ein Ort geweigert auf einer Landkarte eingezeichnet zu sein” oder “Ich kann mir Regionen vorher anschauen, bevor ich in den Urlaub fahre” wogen bei mir gefühlt viel schwerer als Bedenken wie “Diebe können mein Haus ausspähen” oder “Mein Persönlichkeitsrecht wird durch ein Foto meiner Häuserfassade gefährdet“.
Denn sind die Fotografien nicht bereits zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme veraltet? Es sind ja nicht wie in der allgemein geschürten Desinformation einiger Verlagshäuser Live-Bilder, sondern lediglich Momentaufnahmen, die beim vorbeifahren von der Straßenseite aus geschossen wurden. Natürlich lässt sich solches Bildmaterial mit den aktuellen Telefonnummern der Bewohner versehen aber was ist es schon mehr als ein altes Bild mit bald alten Informationen?
Und so dachte ich über den Mehrwert von Google Street View nach und wurde beim beobachten des vorbeifahrenden Traktors auf andere Gedanken gebracht.
- Wieso fahren die Google-Mitarbeiter nicht auch Felder und Waldwege ab?
- Eigentlich auch langweilig, auf dem Traktor sitzen und immer hoch und runter.
- Großmutter hat die Arbeit noch mit der Hand machen müssen!
- Da hatte ich doch noch eine alte Fotografie von Ihr bekommen.
- Ist dieses Bild nicht bei dem kleinen Feldweg aufgenommen worden?
- Oben rechts in der Ecke ist doch der Baum mit der Bank.
Und da hab ich den eigentlichen Mehrwert von Google Street View für mich erkannt und bin einige alte Fotos durchgegangen um bildlich zu unterstützen was ich dachte.
Was bedeutet Google Street View für die Menschheit?
Google bietet kostenlos für uns im Jahre 2010 nichts weiter an, als unendlich viele Bilder unserer zeitlichen Umgebung. Auch wenn wir noch nie in den USA waren, so könnten wir jedoch damit recht gut unseren Urlaub planen und ungefähr wissen, wie unsere Umgebung dann dort aussieht. Von aktuellen Baustellen, Unwetterkatastrophen, neugebaute Diskotheken in Hotelnähe und vielleicht längst verdreckter Sandstrände mal abgesehen. Es bietet potentiellen Einbrechern die Option ein eventuell luxuriös wirkendes Anwesen aufzusuchen, um festzustellen, dass das Gebäude bereits leer steht oder der nagelneue Ferrari vor der Haustür wohl doch nicht zu den Anwohnern gehörte.
Doch für die Menschen, die in 50, 100 oder 1000 Jahren mit einer ähnlichen Neugier für die Vergangenheit aufwachsen werden wie sie zumindest mir geschenkt wurde, müsste sich beim durchstöbern dann alter Internetarchive für diese Personen eine wahre Schatzkammer öffnen.
- Wie oft habe ich mich als Kind geärgert nicht mit Christoph Kolumbus die “Neue Welt” zu entdecken.
- Wie oft habe ich mir gewünscht bei Ausgrabungen wie bei der Entdeckung Trojas dabeigewesen zu sein.
- Wie oft habe ich schmunzeln müssen bei Weltbildern vergangener Zeiten, wie bei derWalsperger-Weltkarte.
- Wie oft schaue ich mir alte Bilder meiner Großeltern und Bekannter an und freue mich über Dinge aus vergangener Zeit.
Nehmen wir an, Google existiert noch in 300 Jahren und sie aktualisieren in einem zeitlichen Raum von fünfzehn Jahren ihre Karten, so würden in 300 Jahren insgesamt 20 Fotobände der gesamten freien “befahrbaren” Welt existieren, denn ich denke mal nicht, dass Google die paar Kilobits – gemessen im Zeitraum auf 300 Jahre – wegen Platzmangels löschen müsste. Zwanzig vielleicht dann übereinander legbare Karten, gespickt mit digitalen Bildern und Videos von Internetnutzern, die zwar nicht uns aber unsere Ururenkel noch mehr strahlen lassen werden, als die uns gegebenen Tonscherben und Malereien oder Fotografien aus längst vergessenen Zeiten, von denen wir trotz der wenigen Informationen die wir haben, einfach nicht genug erfahren können.
Welchen unglaublichen Dienst erweist uns diese Firma namens Google, gegründet vor gerade mal 15 Jahren in einer Garage von zwei jungen Burschen, die nichts weiter machen (was vermessener klingt als es Ihnen die Menschheit in einigen Jahrzehnten sicherlich danken wird), als die Welt zu unserer heutigen Zeit aus einem neuen Blickwinkel zu kartographieren? Sind Larry Page und Sergei Brin nicht die heutigen Entdecker “Neuer Welten”?
Und wieso ist in diesem globalen Umfang noch nie vorher ein breiter Teil der Bevölkerung darauf gekommen diesen Dienst für zukünftige Menschen zu übernehmen? Millionen von Bildern werden pro Tag ins Netz gestellt mit nützlichen Informationen von Partys, Reisen und Katzen, aber wieviele von unserer reinen alltäglichen Umgebung im vernünftigen zusammenhängenden Kontext?
Ich selber bin angestachelt durch diesen Gedankengang an meine mir überlassenen alten Bilder gegangen und habe versucht, die mir heute noch bekannten Standorte aufzusuchen und sie aus der ungefähr selben Position zu fotografieren, wie sie bereits irgendwann, irgendjemand vor mir fotografiert hat.
Bilder der Vergangenheit im Vergleich mit der Gegenwart
Dieser erste Bildervergleich zeigt nicht nur ein durch ein ausgebrochenes Feuer verschwundenes Haus des Gutshofes, sondern wie groß der Baum in der Mitte des Fotos geworden ist. Es dient als Einstieg, weil auf dem ersten Blick die Bilder zum verwechseln ähnlich aussehen, wären die Bilder nicht in einem ungefähren Zeitunterschied von 70 Jahren geschossen worden.
Ein beliebtes Bildmotiv eines jeden Ortes ist das ewig wiederkehrende Ritual, sich für ein Gemeinschaftsfoto vor ein örtliches Lokal aufzustellen um sich gemeinsam für die Zukunft zu verewigen. Doch werden heutige Bilder nicht mehr an dieser Stelle geschossen, da dort heute keine Gastronomie mehr ist, sondern ein Reitsportgeschäft:
Für mich faszinierend ist, dass ich auf dem ersten Bild meinen Großvater erkenne, wie er noch als junger Feuerwehrmann die Einweihung der ersten Feuerlöschkreiselpumpe feierte und auf dem zweiten Bild einige Eltern im Schulalter meiner damaligen Schulfreunde erkenne. Es sind Zeitsprünge von ungefähr 35 Jahren, die aber auf drei verschiedene Verwendungen des Gebäudes hinweisen.
Doch die Wandlung eines ganzen Gebäudes kann so radikal sein, dass man erst auf dem zweiten Blick erkennen mag, dass es sich wirklich um ein und dasselbe Gebäude handelt:
Sind mir die Menschen auf dem alten Bild zwar völlig unbekannt, so kannte ich die Bewohner des Hauses zu meiner Zeit und war erstaunt, welche Wandlung ein Haus vollziehen kann. Doch auch Seitenperspektiven von der Straßenansicht zeigen manchmal unerwartete Dinge die man so bisher nicht wissen konnte und wieder auf eine andere Nutzung hinweisen:
Gebäude leben halt mit den Menschen mit, werden verändert und lassen sich der aktuellen Situation anpassen. Verschwindet ein Blumentopf vor der Haustür vielleicht nach einer Woche, so kann eine Scheune früher dem Pferdewagen als Abstellplatz und heute dem Auto als Parkplatz dienen:
Gebäude sind also tagtäglich einer genauso starken Veränderung ausgesetzt, wie die Menschen die in Ihnen leben. Werden mal in kürzester Zeit intensive Veränderungen vorgenommen, passiert in einen gewisse Zeitraum kaum etwas. Wird ein Baum vor der Haustür gefällt und ein neuer gepflanzt, kann es zwar sein, dass der heutige Baum genauso groß ist wie der auf dem vorhandenen Bild, doch die Bewohner, die Umgebung und alle anderen Faktoren werden sich stark verändert haben. Ein Bild sagt also bereits am nächsten Tag nichts mehr über die Situation aus, die es aufgenommen hat. Es ist lediglich ein Zeitfenster, welches festgehalten wurde.
Und was ist Google Street View anderes, als ein 360 Grad-Zeitfenster aus den Jahren 2007 bis 2010?
Das Deutsche Paradoxon
Jeff Jarvis sein “the german paradox” basiert auf der Frage, warum “wir Deutschen” zwar der Freikörperkultur fröhnen können oder gemischte Saunen besuchen, aber alltägliche Informationen, die jeder von uns hat und jeder von uns kennt, geheimhalten wollen. Natürlich bedarf es nicht der Information was man gefrühstückt hat, doch dass man sich über einen Sieg seines Vereins freut, muss man doch nicht nur seinen Bekannten mitteilen sondern vielleicht auch der ganzen Welt? Was scheut einen Menschen davor von sich persönliche Dinge preiszugeben aber sogar Dinge verbieten zu lassen, die nur sekundär mit Ihm in Verbindung stehen?
Wenn Bilder nur ein Fenster in eine vergangene Situation sind, wieso sind dann alltägliche Informationen von Gestern ein Staatsgeheimnis? Natürlich sind private Dinge geheimzuhalten, aber die von einigen Bewohnern Deutschlands gezogene Grenze ist da eigenartigerweise sehr schwammig. Ihr dürft nicht mein Haus fotografieren, weil dann niemand weiss, dass es mein Haus ist. Wir sind für ELENA, ACTA und SWIFT, weil wir davon in unserer Tageszeitung nichts mitbekommen haben und wenn der Staat schon Kameras für unsere Sicherheit aufstellt, sind Nackt- und Irisscanner sicherlich auch der richtige Schritt.
“Formularverliebte Deutsche” richten einen historischen Schaden an
Meiner Meinung nach richten diejenigen, die sich von der medialen Hetzkampagne eines sterbenden Gossenblattes verleiten lassen vom sogenannten Widerspruchsrecht gebrauch zu machen, einen Schaden an der zukünftigen Menschheit an. Anstatt sich nicht nur bildlich gesprochen, sondern ganz bewusst auch vor Augen zu führen, was Google Street View eigentlich ist, vertrauen sie einer Pressekampagne, die nicht über den potentiellen Nutzen eines Kartendienstes spricht, sondern lieber über die potentiellen Gefahren schwadroniert.
Von manchen Ortschaften war sogar schon die Rede, die kollektiv verweigern wollen, die Google Street View-Autos in die Straßen des Ortes einzulassen. Diese Orte werden nie eine Straßenansicht Anno 2010 für ihre Nachkommen liefern können. Diese dann historischen Fotos von Orten sind dadurch, dass sie einmal verweigert wurden, vielleicht für immer aus den zukünftigen “normalen” Karten gelöscht. Sollte es den betreffenden Ort bei der anscheinend geistig sehr deutschen Bevölkerung überhaupt noch geben.
Diese Teile der Geschichte würden dann nämlich so angezeigt werden:
Google Via Appia (2000 v.Chr.)
Man stelle sich einen Anbieter wie Google vor 2000 Jahren vor, der durch Rom fährt und uns heute einen detailgetreuen Einblick auf die damaligen Lebensbedingungen zeigen könnte, wenn da nicht Gaius Iulius Caesar gewesen wäre, der es per Eiledikt verboten hätte.
Würden die Historiker von Heute nicht diesen Menschen dafür verabscheuen, dass er Ihnen diese einmalige Informationsquelle enthalten hätte? Würden wir heutigen Normalsterblichen uns nicht fragen, warum man die technischen Möglichkeiten nicht einfach angenommen hat und sie dafür nutzt, dass Wissen der Menschheit zu vermehren? Über die Naivität des ängstlichen Caesars lächeln?
Ist ein solches Verhalten nicht schon aus heutiger Sicht ein ähnliches Gebahren wie eine digitale Bücherverbrennung? Welchen Menschen schadet diese Information Heute und welchen Nutzen wird sie vielleicht den Menschen in der Zukunft bringen?
Ich kann es nicht beantworten. Ich habe lediglich während meiner heutigen Fotos selber an die Erinnerungen, die ich mit meinem Heimatort verbinde, gedacht und wieviele Gebäude, Plätze, Wiesen und Gegenstände es bereits jetzt nicht mehr gibt und von denen es wohl wenige, wenn überhaupt Fotografien gab.
Ein Schulfreund der schon vor einigen Jahren weggezogen ist, hatte früher mit seiner Familie im Ort einen Schrebergarten, der uns gemeinsam als Spielplatz diente und in dem wir viele Stunden unserer Kindheit und Jugend verbracht haben. Der sieht zum Beispiel aktuell so aus:
Die wenigen Bretter die zwischen dem Unkraut noch zu erkennen sind, werden wohl in den nächsten Jahren vermodert sein und gänzlich der entstandenen Pferdeweide weichen. Oder die Pferdeweide wird Baugrund werden, wie bereits ein anderer Garten im Umkreis. Hätte es Google Street View zehn Jahre früher gegeben, könnte ich mir heute noch die Hütte ansehen und mich auf andere Erinnerungen konzentrieren.
So bleibt nur dieser Bretterhaufen und die Erinnerung an eine schöne Zeit.
Widerstand gegen den Widerstand
Da ich nicht will, dass mein Ort von mir noch unbekannten Bekannten aus Unwissenheit verstümmelt im Netz auftaucht, werde auch ich einen Widerstand gegen den Widerstand beginnen, der sich zwar nur auf meinen Heimatort bezieht, dafür aber nicht in schriftlicher Form wie Sascha Lobos Widerspruch gegen den Widerspruch. Auch Jens Bests Idee, nur die “Verschollenen Häuser” zu fotografieren, oder wie Jörg Kantel vereinzelte Gebäude reicht mir nicht.
Ich werde mit meiner kleinen aber ausreichenden Digitalkamera, einem Stück Kreide, einem Besenstiel und einem Kasten Bier an diesem Wochenende meinen Heimatort begehen und alle Straßen, auch Fuß- und Schleichwege in beide Richtungen ablaufen und ungefähr alle zehn Meter ein Foto schießen. Diese werde ich mit einem dafür aufgelegten WordPress mit Fototheme hintereinander als Beiträge posten und sie mit dem wunderbaren Plugin Knspr-ImgNote verbinden. Es wird zwar keine 360°-Ansicht haben, doch man wird sich durch die Bilder klicken können und mein mir so geschätzter Heimatort wird an einem Wochenende im September 2010 als Zeitfenster für die Generationen nach mir bleiben. Die Kommentarfunktion ermöglicht es vielleicht noch die ein oder andere Information über die historischen Gebäude mitzuteilen und erweiterbar ist es nachträglich auch.
Das fertige Projekt wird dann wohl hoffentlich Anfang nächster Woche online sein.
Soll Google Street View Deutschland ruhig in verstümmelter Form kommen.
Mein Ort wird schon im Netz sein, denn ich darf es ja. Ich bin ja nicht Google.
Und wenn sich jemand beschweren wird, ist es auch nicht so schlimm.
Wir Deutschen schaffen uns ja angeblich eh ab.
Dann halt auch digital.